Teil 1: Hat der Individualismus uns müde gemacht?

Wenn ich quer durch‘s Land reise, dann nehme ich überall dasselbe Phänomen wahr: eine allgemeine Erschöpfung. Viele Leute sind müde und orientierungslos. Die Bibelstelle aus Matthäus 9 beschreibt diesen emotionalen Zustand, nicht in Galiläa, nein, derzeit in Deutschland am besten:

„Und Jesus durchzog alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen, verkündigte das Evangelium von dem Reich und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen im Volk. Als er aber die Volksmenge sah, empfand er Mitleid mit ihnen, weil sie ermattet und vernachlässigt waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.“

Menschen sehnen sich (wieder) nach Heimat

Jesus macht innerlich einen Schritt zurück, schaut sich das Volk als Ganzes an und fragt sich, wie es den Leuten eigentlich so geht. Er erkennt, dass sich eine allgemeine Ermüdung und Orientierungslosigkeit breit gemacht hat. Die nehme ich auch stark in Deutschland wahr und gleichzeitig eine enorme Sehnsucht nach einem Zuhause. Eins und eins zusammengezählt bedeutet das: Schafe ohne Hirten sind wie ein Volk ohne heilsame Zugehörigkeit, moderner gesagt, Menschen ohne Heimat.

Die Werbung – mitunter ein Stimmungsbarometer, das die Grundbedürfnisse und Grundsehnsüchte einer Gesellschaft aufgreift – zeichnet derzeit häufig das Bild von Zuhause, Heimat und Zugehörigkeit. Und dann entsteht auch noch wie aus dem Nichts ein Heimatministerium. Das sind ganz neue Töne.

Noch vor wenigen Jahren klang Heimat ein bisschen verstaubt, nach Kuckucksuhr und Häkeldeckchen

Vielleicht ist es durch das Gefühl der Überfremdung durch die vielen zugezogenen Menschen ein so wichtiges Thema geworden. Oder weil wir – vernetzt mit allem und jedem – uns dennoch immer weniger wahrgenommen fühlen. Auch in vielen neueren Kirchengemeinden (Hillsong/ICF) hat der Slogan „Willkommen zuhause!“ längst Einzug gehalten. Heimat scheint zum Grundthema dieser Zeit geworden zu sein.

Auch das ‚Zukunftsinstitut‘ von Matthias Horx, das kommende Trends für Wirtschaft und Gesellschaft erforscht, bestätigt diese Entwicklung. Dort spricht man davon, dass wir uns auf der Schwelle zu einer neuen Wir-Kultur befinden. Im Internet gibt es eine ausführliche Studie dazu mit dem Tenor: In den kommenden Jahren werden wir die stark individualistisch geprägte Phase abschließen und in eine Zeit der Wir-Gesellschaft übergehen.

Wir haben uns das Wir lange abtrainiert

In den alten Bundesländern hat sich der Individualismus über viele Jahrzehnte breit gemacht. Er gipfelte in der postmodernen Lebensart, die alles und jeden „stehen“ lässt. Jeder kann bis heute nach seiner Fasson leben und „selig“ werden. Auch was die eigene Religion angeht. Eben wie man es selbst für richtig hält, alles ist in Ordnung, alles ist möglich. Natürlich nur, solange man dem anderen seine Wahrheit und seinen Lebenswandel lässt.

Wir lassen einander stehen. Da stehen wir nun, jeder für sich

Auf der einen Seite schenkt uns der Individualismus die große Freiheit, auf der anderen Seite führt er zu Isolierung und macht einsam. Denn die selbst gebastelte Lebensart ist nicht mehr kompatibel mit der Lebensart der anderen. Weil aber ein hoher Wert darin liegt, jedem seinen eigenen Kosmos zu lassen, gilt auch das als nicht weiter schlimm. Wir wollen ja keinerlei Werte-Urteil fällen.

Im selbst erschaffenen Kosmos fühlt sich der Einzelne zwar ganz wohl, dieses Wohlsein geschieht aber auf Kosten des Gemeinsamen, des Wirs, das immer weniger stattfindet. Philosophisch betrachtet nennt man das die Postmoderne, die aus meiner Sicht gerade zu Ende gegangen ist. Denn wer hält diese unglaublichen Wahlmöglichkeiten, dieses „ich gestalte mir meine Welt, so wie sie mir gefällt“ schon lange aus?

Die Pipi Langstrumpf-Manier ist auf Dauer hochgradig anstrengend

Der Nachteil ist nämlich, das sich jeder immer wieder neu erschaffen, neu definieren und sich nach außen klar positionieren muss. Nichts, auch keine Beziehung, ist mehr sicher. Jeder verändert nach Gutdünken seine Lebensart und seine Kultur. Das schafft Überanstrengung. In unserer Multioptions-Gesellschaft gibt es noch den einen großen Zwang: Wählen zu müssen.

Wenn keiner mehr vorgibt, was richtig und falsch für mich ist, muss ich selbst entscheiden. Das führt zu einer starken Überforderung, aber auch zu einer größeren Sehnsucht nach Zughörigkeit. Zu wem oder was gehöre ich? Wo bin ich Teil einer Gemeinschaft? Wo kann ich einfach sein, wie ich bin? Wo muss ich mich nicht immer wieder neu beweisen?

In dieser Spannung leben wir

Allerdings wird der Trend, die Sehnsucht nach dem Wir und Verwurzelung boykottiert von einer lange antrainierten hedonistischen Lebensart. Denn wie passen Schmerzvermeidung und Hingabe an eine Gemeinschaft zusammen? Wie kann ich weiterhin den maximalen Lustgewinn als Leitlinie meines Lebens zelebrieren und mich gleichzeitig verlässlich auf Beziehungen einlassen? Gar nicht.

Mit seinem unveränderlichen Wesen und seiner Verlässlichkeit bietet Jesus selbst das Nonplusultra der Hirtenschaft an. Sich darauf einzulassen, bringt eben diese Balance aus Flügeln und Wurzeln, nach der sich so viele Menschen sehnen. Ein Erfolgsmodell, das wir in die Welt tragen und multiplizieren sollten.

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Comments
  • Jürgen Klammt

    Danke, Michael. So holt das Apostolische wieder den Hirtendienst in die Mitte! Unter-hirten sein – jeder für (s)ein Segment der Gesellschaft. Eine lohnende Vision.
    Ich konnte das einige Jahre fürLangzeitarbeitslose in München sein.

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